Übersetzungswesen. Gegenstand und Grundbegriffe der Übersetzungswissenschaft
Prüfungsfragen
- Übersetzungswesen. Gegenstand und Grundbegriffe der Übersetzungswissenschaft.
- Die Übersetzbarkeit.
- Übersetzerische Äquivalenz.
- Übersetzen und Dolmetschen.
- Die Arten der Translation: Dolmetschen. Das konsekutive Dolmetschen.
- Zum Sprechakt beim Dolmetschen.
- Protokoll.
- Übersetzungseinheit und Übersetzung auf verschiedenen Ebenen des Sprachsystems.
- Translatorische Transformationen.
- Falsche Freunde des Übersetzers.
- Wiedergabe der Eigennamen in der Übersetzung.
- Wiedergabe der phraseologischen Einheiten.
- Zur Übersetzung der Zeitformen des Verbs.
- Wiedergabe des Passivs ins Russische.
- Zur Übersetzung der Modalverben.
- Wiedergabe der gerundialen Konstruktionen im Deutschen.
- Übersetzung der Substantive ins Deutsche/Russische.
- Fremdsprachenunterricht und Erwerb übersetzerischer Kompetenz: Unterschiede.
- Äquivalentlose Lexik und deren Wiedergabe bei der Übersetzung.
- Sprache, Kultur, Übersetzung.
Übersetzungswesen. Gegenstand und Grundbegriffe der Übersetzungswissenschaft
Das interlinguale Übersetzen ist einer der ältesten Berufe der Welt. Schon die Bibel ist ein Beispiel für laufende Übersetzungsleistungen.
Dennoch gab es bis Ende der 80-er Jahre des XX. Jahrhunderts (Ihren Beginn führt man auf den Anfang der 50er Jahre zurück (nach anderen Ansichten: Anfänge 20er Jahre, stürmische Entwicklung)) keine eigenständige Disziplin, die sich spezifisch mit der Übersetzung und deren Problematik auseinandersetzt.
Bruno Osimo stellt die Hypothese auf, dass die Übersetzung vielleicht gerade, weil es sie "immer" schon gegeben hat, Jahrhunderte lang quasi unbeachtet blieb, als ein Element der Kulturlandschaft, das als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Denn obschon sich seit Cicero zahlreiche Schriften mit diesem Thema auseinandersetzen, kam nicht das explizite Bedürfnis auf, einen spezifischen Wissenschaftszweig aufzubauen. (Ausführlich dazu sh: Алексеева И.С. Введение в переводоведение. С. 52-126).
Womit befasst sich die Übersetzungswissenschaft? Laut L. Barchudarow sei "der Gegen-stand der linguistischen Übersetzungstheorie die wissenschaftliche Beschreibung des Pro-zesses der Übersetzung als zwischensprachliche Transformation, d.h. als Umwandlung eines Textes in einer gegebenen Sprache in einen ihm äquivalenten Text in einer anderen Sprache" [Barchudarow 1979: 8]. Aus dieser Definition ergibt sich, dass im Mittelpunkt dieser linguistischen Disziplin die Übersetzung steht. Es gibt verschiedene Interpretationen dieses Begriffs.
Im Deutschen entsprechen dem russischen 'perevod' verschiedene Bezeichnungen (wir stoßen gleich auf ein translatorisches Problem): Sprachmittlung; Translation; Übersetzung; Dolmetschen. Man kann hier die Beziehungen zwischen diesen Begriffen in Anlehnung an O. Kade folgenderweise darstellen:
Sprachmittlung
Translation adaptives Übertragen
Übersetzen Dolmetschen
[Kade 1980: 81]
Unabhängig davon, welches der oben erwähnten Wörter gebraucht wird, versteht man es auf zweierlei Art: als Produkt der übersetzerischen Tätigkeit, d.h. Text, und als Prozess der Produkterzeugung, d.h. die Tätigkeit des Übersetzers, der diesen Text herstellt (erzeugt).
Es gibt verschiedene Deutungen der Translation und demzufolge auch Unterschiede in Definitionen dieses Begriffes. So versteht I.S. Aleksejewa unter Translation folgendes: Translation ist die Tätigkeit, die in der Umkodierung eines Ausgangstextes in einen Zieltext durch (von einem) einen Translator besteht, wobei der letzte schöpferisch vorgeht und die Translationsvariante abhängig von Zielsprachressourcen, Translationsart und -aufgaben, Textsorte und eigener Persönlichkeit auswählt. Translation ist auch das Ergebnis der jeweiligen Tätigkeit (Alexsejewa 2004: 7).
Für L.K. Latyschew hat dieser Begriff verschiedene Seiten, er bestimmt ihn als eine gesellschaftliche Tätigkeit, als Text und als Zentralpunkt der zweisprachigen vermittelten Kommunikation (Latyschew 2001).
Christiane Nord bietet folgende Definition an: Translation ist die Produktion eines funk-tionsgerechten Zieltextes in einer je nach der angestrebten oder geforderten Funktion des Zieltextes (Translatskopos) unterschiedlich spezifizierten Anbindung an einen vorhandenen Ausgangstext. Durch die Translation wird eine kommunikative Handlung möglich, die ohne sie aufgrund vorhandener Sprach- und Kulturbarrieren nicht zustande gekommen wäre (Chr. Nord 1991: 31).
Das Wesen einer Tätigkeit (wie auch eines Gegenstandes, z.B. eines Textes) bildet ihre Funktion. Deshalb können wir das Wesen/die Funktion der Translation (Übersetzung/ Sprachmittlung) so bestimmen: es/sie besteht darin, "die Kommunikation zu sichern" [Jäger 1975: 36] oder präziser: Die Funktion der Sprachmittlung besteht generell in der Schaffung der Voraussetzungen für das Zustandekommen der ZVK <zweisprachige vermittelte Kommunikation> [Kade 1980: 81].
Behandeln wir zunächst das einsprachige Kommunikationsmodell. Es sieht so aus:
Sender - Mitteilung (Aussage) - Empfänger
Dabei, im Kommunikationsakt, bedienen sich der Sender und der Empfänger eines Kodes, im Falle der verbalen Kommunikation, einer natürlichen Sprache, die ein Zeichensystem darstellt. In der Kommunikationssituation, wenn der Sender und der Empfänger verschiedenen Sprachgemeinschaften angehören und sich verschiedenen Kodes bedienen, entstehen Probleme und zwar das, was L. Latyschew als sprachliche oder genauer linguoethnische Barriere bezeichnet [Латышев 2001: 12ff]. Zu ihrer Überwindung brauchen die Menschen einen Sprachmittler. Die Kommunikation durch den Spracmittler nennt man zweisprachige vermittelte Kommunikation. Der Akt der ZVK besteht aus zwei hintereinander verbundenen Kommunikationsakten. Der Sprachmittler tritt bald in der Rolle des Empfänger, bald in der Rolle des Senders auf. Der ganze Übersetzungsprozess wird durch diesen Rollenwechsel beeinflusst. Eine andere Komponente des kommunikativen Prozesses ist die Reaktion des Empfängers auf die Aussage. Dabei reagiert der ZS-Empfänger nicht auf AT, sondern auf ZT. Damit die ZVK effektiv wäre, sollte die Reaktion des AS-Empfängers auf AT mit der des ZS-Empfänges auf ZT übereinstimmen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Aufgabe des Sprachmittlers ausschließlich in der Überwindung der linguokulturellen Barriere besteht. Bekannlich kann auch die einsprachige Kommunikation ihren Zweck verfehlen, wenn die erwünschte Reaktion ausbleibt. Der Erfolg eines Kommunikationsaktes hängt von der kommunikativen Kompetenz des Empfängers ab, die eine Gesamtheit von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen darstellt, die den Empfänger einen Text adäquat wahrnehmen und interpretieren lassen.
Wenn wir die Übersetzung als Text behandeln wollen, erscheinen weitere Begriffe von Bedeutung, und zwar die Äquivalenz, die Invariante und die Übersetzbarkeit.
Träger dieser Erscheinung kann nur der Mensch als gesellschaftliches Wesen sein. Vom Subjekt her erhält Sprachmittlung das klassifikatorische Merkmal sprachlichkommunika-tive Tätigkeit des Menschen.
Durch die Art und Weise der Ausführung ist Sprachmittlung als Kodierungswechsel in Form einer interlingualen Umkodierung charakterisiert. Die Umkodierung ist eine Folge sprachlicher Operationen (Identifizierung von QS-Zeichen, Ersetzung durch ZS-Zeichen, Verknüpfung von ZS-Zeichen).
Das Ziel der Sprachmittlung hängt aufs engste mit dem Merkmal Gesellschaftlichkeit zusammen und stellt deshalb ein ganz entscheidendes Moment dar. Das Ziel der Sprachmittlung (als eines Mittels zur Realisierung des ZVK) ist verständlicherweise vom Ziel der ZVK (bzw. des jeweiligen ZVK-Aktes) kaum zu trennen. Das Ziel der ZVK wiederum wird von der übergeordneten Tätigkeit bestimmt, der die Kommunikation dient.
Ziel eines jeden Sprachmittlungsprozesses ist die Erzeugung eines ZS-Textes, der als Kommunikat ein geeignetes Mittel zur Erreichung des Kommunikationszieles in dem Akt der ZVK darstellt, in den der Sprachmittlungsprozess als notwendiger Bestandteil eingebettet ist.
Der Charakter der Sprachmittlung als sprachlicher Prozess manifestiert sich darin, dass Sprachmittlung eine spezifische Art der Sprachverwendung ist, nämlich Texterzeugung durch Umkodierung. Die Anfangsgröße dieses Prozesses bildet ein Text einer Sprache L1, die Endgröße ein Text einer Sprache L2. In der Kommunikation sind diese Texte zunächst einmal Kommunikate, also materielle Gebilde, denen (vermittelt über das menschliche Be-wusstsein) ein ideelles Korrelat zugeordnet ist, nämlich ein subjektives Abbild einer bestimmten Situation als eines Ausschnittes der objektiven Wirklichkeit. Als Kommunikat ist der Text ein ganzheitliches Zeichen, denn nur Texte als größte Gliederungseinheiten der Rede können als Ganzheiten Kommunikatsfunktion ausüben. Als Kommunikate sind der L1-Text und der L2-Text also als Ganzes Zeichen und als Ganzes Träger einer Nach-richt, ebenso wie etwa ein Werk der bildenden Kunst oder ein künstlich geschaffenes Symbol, z.B. ein Verkehrszeichen, als unteilbare Einheit die Existenzweise eines Kommu-nikats als eines Mittels zur Veräußerlichung von Bewusstseinsinhalten sein kann.
In der ZVK und damit auch in der Sprachmittlung als Mittel zur Realisierung der ZVK kommt es darauf an, dass der L1-Text und der L2-Text als Kommunikate in bestimmten Eigenschaften übereinstimmen, so dass sie (mehr oder minder) übereinstimmende Wirkungen, d.h. kommunikative Effekte in Form bestimmter Zustandsveränderungen bei den jeweiligen Empfängern, auslösen können. Im Prozess der Umkodierung wird jedoch nicht mit den Kommunikaten als ganzheitlichen Zeichengebilden operiert, d.h., es wird in der Regel nicht ausgehend von dem komplexen Bewusstseinsinhalt, der als ideelles Korrelat dem Original zugrunde liegt, in der Zielsprache neu kodiert, sondern der Sprachmittler macht sich die Existenzweise der Kommunikate und die hieraus resultierenden Eigenschaften zunutze. Von ihrer Existenzweise her sind Texte sprachliche Makrozeichen, d.h. bestimmten Regeln und Normen entsprechende sprachliche Zeichenfolgen oder – anders ausgedrückt – aus ebenalls zeichenhaften kleineren sprachlichen Einheiten zusammengesetzte Zeichen. Der Sprachmittler operiert während der Umkodierung mit diesen kleineren Einheiten. Texte sind in der Regel zu lang, als dass sie bei der Umkodierung als kommunikative Ganzheiten gehandhabt werden könnten.
Die weiteren wichtigen Begriffe der Übersetzungstheorie sind: Ausgangs-/Qellensprache (=AS/QS) (russ.: исходный язык = ИЯ) und dementspechend Ausgangs-/Qellen-/Original-/Proto-/Prätext (russ.: исходный текст = ИТ) und Ziel-/Metasprache (=ZS) (russ.: переводящий язык = ПЯ), Ziel/Metatext (=ZT) (russ.: переведённый текст = ПТ).
Die Übersetzbarkeit
Die Auffassung von Übersetzung muss zwei Faktoren berücksichtigen: Einerseits die kul-turelle und andererseits die linguistische Entfernung zwischen dem Text, der übersetzt werden soll – d.h. dem Ausgangstext (auch: Prototext oder Prätext) – und dem Text, der dabei entstehen soll – d.h. dem Zieltext (Metatext).
Über die Art und Weise, wie sich Kultur und Sprache gegenseitig beeinflussen, besteht keine Einigkeit. Das Problem der Übersetzbarkeit, das daraus resultiert, wird daher ver-schieden gelöst. Es bestehen einige Theorien in dieser Hinsicht, die entweder die prinzipel-le Unmöglichkeit der Übersetzung oder das Prinzip der absoluten Übersetzbarkeit behaupten.
Zu den Anhängern der ersten Theorie gehören W. von Humboldt, L. Weisgerber an. Dieser Theorie liegt die Ansicht zugrunde, dass jede Sprache ein eigenartiges Weltbild beinhaltet, das die Weltanschauung der jeweiligen Sprachträger bedingt. Einen besonders extremen Niederschlag hat diese Auffassung in der sog. Sapir-Whorf-Hypothese gefunden. Weiter kommen wir nochmals darauf. Die gegeseitige (kontroverse) Ansicht geht auf die Sprachphilosophie der Aufklärung (Descartes, Leibniz, Wolf) zurück. Die Vertreter dieser Auffassung behaupteten, alle Sprachen seien Varietäten einer gemeinsamen lingua universalis, für die Übersetzung seie nur die Gemeinsamkeit von Begriffen wichtig. Dieses Prinzip entwickelte spater N. Chomsky. Behandeln wir nun einige dieser Theorien.
Der amerikanische Linguist B. L. Whorf äußerte die Ansicht, Sprache sei weniger ein Instrument, mit dem Aspekte der eigenen kulturgeprägten Kenntnisse in Worte gefasst werden könnten, als vielmehr ein Katalog zur Systematisierung von Kenntnissen, die an-dernfalls ungeordneten Charakter hätten. Mit diesem Konzept wurde die herkömmliche Anschauung vom Verhältnis zwischen Sprache und Kultur auf den Kopf gestellt. Denn hier-bei kommt der Sprache – unabhängig von der Sprachkompetenz – lediglich die Aufgabe zu, bereits erworbenes Wissen zu formulieren. Whorfs These von der sprachvermittelten Modellierung und Systematisierung unserer Kenntnisse impliziert, dass Personen oder Sprachgemeinschaften, die nicht dieselbe Sprache sprechen, die Welt ganz anders sehen und nicht nur anders beschreiben. Auch M. Dummett vertritt die Auffassung, dass es der Sprache zufällt zu bestimmen, was es gibt – dass Sprache die Objekte festlegt, deren Existenz wir anerkennen.
Mit seiner These weist Whorf dem Erwerb der Muttersprache implizit eine ent-scheidende Rolle zu. Denn mit der Muttersprache erlernt das Kind zugleich die Art und Weise, wie Erfahrung katalogisiert werden kann. Wer eine Fremdsprache erlernt, erwirbt dabei, nach dieser Auffassung, gleichzeitig auch eine andere Weltanschauung und eine andere An-schauung von Kultur. Ohne Muttersprache gibt es laut Whorf kein Wissen und bei Men-schen, die mehr als eine Sprache beherrschen, gibt es kein eindeutiges Wissen.
Abgesehen von dieser allgemeinen These der Beziehungen zwischen Sprache, Erfahrung und Wissen, sind Whorfs Thesen übersetzungswissenschaftlich weniger interessant. Denn wo er sich mit Übersetzung auseinandersetzt, befasst er sich mit der Wort-für-Wort-Über-setzung. Ob Eskimos mehr als eine Entsprechung für das Wort «Schnee» kennen, ist vom Standpunkt der übersetzungswissenschaftlich angewandten Semiotik nicht besonders interessant. Es muss auch nicht unbedingt bedeuten, dass die kognitiven Prozesse bei Deutschen und Eskimos anders geartet sind. Es könnte schlicht heißen, dass sich ihr Er-fahrungshorizont unterscheidet, da sie unterschiedlichen Kulturen angehören.
Während uns Whorf eine faszinierende neue Perspektive erschließt, welche Sprache nicht nur als Ausdrucksmittel, sondern auch und vor allem als kognitives Instrument begreift, sind wir mit seiner These also nicht viel weiter gekommen, was unsere Einsicht in die Frage der Übersetzbarkeit betrifft. Was Whorf dem interlinguistischen Übersetzer mitteilt, ist vor allem die Notwendigkeit, sich mit jedem Erwerb einer Sprachkultur auch eine andere Sicht der Welt anzueignen. Übersetzung ist für Whorf also implizit als eine Umkodierung der Weltanschauung zu verstehen. Spezifische Aussagen zur Übersetzbarkeit macht Whorf allerdings nicht, während Sapir sich genauer darüber äußert, was er für übersetzbar hält und was nicht.
Er legt dabei eine drastische Unterscheidung zwischen den Textsorten zugrunde. Laut An-sicht des berühmten Linguisten ist non-linguistic art übersetzbar, während linguistic art nicht übersetzbar ist. Im Hinblick auf die Übersetzbarkeit unterscheidet Sapir darüber hinaus zwischen Texten, die vorrangig die intuitive Einordnung von persönlichen Erfahrungen beinhalten (latenter Inhalt der Sprache) und Texten, in denen die Spezifizität der Sprache überwiegt, in der diese abgefasst sind. Erstere Kategorie von Texten lässt sich na-türlich eher übersetzen, da sie stärker von der Struktur der Sprache, in welcher diese ver-fasst sind, losgelöst werden kann3.
Das Problem der Übersetzbarkeit wird auch von Hjelmslev behandelt, der Sprache in zwei große Kategorien unterteilt: restriktive Sprachen (restricted), wie beispielsweise künstliche Sprachen oder mathematische Formeln und nichtrestriktive Sprachen (unrestricted), z.B. natürliche Sprachen. Laut Ansicht des dänischen Linguisten ist die Übersetzbarkeit nur unter nichtrestriktiven Sprachen (d.h. auch unter natürlichen Sprachen) und von einer restriktiven in eine nichtrestriktive Sprache gewährleistet, während sich letztere Aussage nicht umkehren lässt:
Ein grundlegender Beitrag zur Klärung der Frage, mit welchem Gegenstand wir uns eigentlich befassen, wenn wir über Übersetzung sprechen, kommt von dem amerikanischen Philosophen W.V. Quine. Sehr interessant ist beispielsweise die Unterscheidung, die Quine zwischen home language und native language macht. Meist merken es die Menschen relativ früh in ihrer Entwicklung, dass die Muttersprache, die ihre Landsleute sprechen (native language), nicht immer mit jener Muttersprache übereinstimmt, die sie im familiären Um-feld erlernt haben (home language). Das Hörverständnis und die gesprochene Kommu-nikation im Rahmen einer größeren Sprachgemeinschaft beruht dabei auf der radikalen Um-formung (radical translation) von allem, was gehört oder gesagt wird. Dabei wird die nütz-liche Unterscheidung zwischen der Bedeutung von Worten und deren Aussprache gemacht, je nachdem ob der Sprachakt im privaten oder öffentlichen Umfeld der eigenen Sprachgemeinschaft stattfindet.
Der empirische Zusammenhang, in dem ein Wort formuliert wird, kann also die mit diesem Wort verknüpfte Aussage und Aussprache beeinflussen. Folglich ist es allein deswegen schon nicht möglich, eine einzige zulässige Übersetzung des Gesagten zu bestimmen. Mit diesen Überlegungen begründet Quine seine Theorie von der Unbestimmtheit der Übersetzung (indeterminacy of translation), eine Art linguistischer Unschärferelation. Freilich schöpft die Auseinandersetzung mit anderen Sprechenden vorrangig aus dem im häuslichen Umfeld erlernten Sprachschatz. Um sich an die grundsätzliche Unschärfe (Polysemie der Sprachbedeutungen) zu gewöhnen, wird die Übersetzung aus der native language in "Haussprache" zum wichtigsten Instrument des Spracherwerbs und der Er-schließung von Bedeutungsnuancen. Wer sich sprachlich gut ausdrücken kann, ist immer auch ein guter "Übersetzer", zumindest unter intralinguistischen und intrakulturellem Ge-sichtspunkten (natürlich sagt dies noch nichts über die Fähigkeit aus, professionell von einer Fremdsprache in die Muttersprache zu übersetzen).
Allerdings werden wir später sehen, dass sich Quines Konzept der Übersetzung in erster Linie auf die intralinguistische Übersetzung anwenden lässt.
Ein weiterer Denker, der einen wichtigen und originellen Beitrag zum Verhältnis von sprachlichem Ausdruck und Bewusstsein/Bewusstwerdung leistete, ist der Linguist Noam Chomsky [Aussprache: hómski].
Laut Chomsky wird jeder Satz, bevor er formuliert wird, als Tiefenstruktur unserer Psyche konzipiert. Chomsky ist der Ansicht, dass ein Satz in den verschiedenen natürlichen Spra-chen – tiefenpsychologisch gesehen – die gleiche Struktur hat: Danach würden Unterschiede im Sprachaufbau erst in dem Moment generiert, wo ein Satz an die Oberfläche gelangt und vom psychischen ins linguistische Phänomen übergeht.
Damit postuliert Chomskys Theorie die Existenz von elementaren und universalen Be-griffskonstruktionen, die allen Menschen gemeinsam sind. Eine interlinguistische Über-setzung (doch auch die intralinguistische Übersetzung) ist folglich laut Chomsky immer möglich, da die logischen Schemata, die den natürlichen Sprachen zugrunde liegen, aus einheitlichen Konstanten bestehen: Denn die tiefenpsychologische Struktur bleibt die gleiche, sie wird nur auf eine andere Weise aktualisiert, wenn sie in eine andere Sprache übertragen wird.
In der eigentlichen Linguistik stieß diese Theorie nicht immer auf Zustimmung, sie hat je-doch Konsequenzen für die übersetzungswissenschaftliche Betrachtung, die hier – ohne auf o. e. Kontroversen einzugehen – erörtert werden sollen.
Chomskys Auffassung impliziert die Trennung zwischen Stilebene und Information. Aus den "tiefenpsychologischen Strukturen" stammen die Informationen, während der Modus, in dem diese Informationen zum Ausdruck gebracht werden, als sekundär betrachtet wird und dem Kreis der formalen Zeichen zuzurechnen ist3.
Bezogen auf Hjelmslevs Unterscheidung zwischen Ausdrucks- und Inhaltsebene, würde dies bedeuten, dass die Übersetzung auf der Inhaltsebene nach Chomsky immer möglich ist, während die Ausdrucksebene zu einer Art Begleiterscheinung wird. Bei dieser Konzeption wird literarische Übersetzung in jeder Form von Vornherein ausgeklammert; im weiteren Sinne ist jedoch auch die Übersetzung anderer konnotativer Texte schlechthin betroffen, selbst wenn diese nicht als Literatur im eigentlichen Sinne gelten können. Denn in einem konnotativen Text ist die Dominante vorwiegend an das geknüpft, was Chomsky als Oberflächenstruktur bezeichnet, während die Tiefenstruktur in den Hintergrund tritt. Dies entspräche der Aussage, dass Übersetzbarkeit laut Chomsky nur auf jene Texte zutrifft, die Eco als «geschlossene» Texte begreift, Texte, die nur eine einzige Interpretation zulassen und keine Konnotation haben. Mit anderen Worten, eine Minderheit der real existierenden Texte.
Whorf, Quine und Chomsky sind von Hause aus alle Linguisten, doch kann die Frage der Übersetzbarkeit nicht erschöpfend behandelt werden, wenn man sich auf rein linguistische Überlegungen beschränkt: Ein Text ist ein kulturelles Phänomen, das innerhalb der Kultur unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt ist und in unterschiedlicher Weise Einfluss ausübt – in diesem Sinne sind Originaltext und Übersetzung gleichermaßen wichtig. Jede Über-setzung ist kulturelle Vermittlung, noch bevor sie Sprachmittlung ist: «Sprache, Text und Textfunktion sind unterschiedliche Widerspiegelungen einer gemeinsamen Kultur. Vom Standpunkt der totalen Übersetzung wäre es daher angemessener, von der Übersetzbarkeit einer Kultur zu sprechen. Der Begriff der kulturellen Übersetzbarkeit ist ein komplemen-täres Konzept, das eine Reihe von verschiedenen Parametern beinhaltet».
Stellt die Übersetzbarkeitsdebatte also die Frage danach, ob ein Text in einer anderen Kul-tur seine Funktion vom kulturellen Standpunkt aus erfüllen kann, dann sind wir im Ver-gleich zum alten Dilemma – dem Sumpf der linguistischen Unübersetzbarkeit konnotativer Texte – schon einen Schritt weiter gekommen. Einerseits ist also zu erwägen, ob die in einem Text dargestellte Kultur übersetzbar ist, andererseits stellt sich die Frage, welche metatextuellen und intertextuellen Beziehungen der betreffende Text mit der Zielkultur oder den Zielkulturen zum Zeitpunkt der Übersetzung hat.
Ein weiteres Element der Übersetzbarkeitsfrage, das nicht vernachlässigt werden darf, be-steht darin, dass der Übersetzer manchmal nicht umhin kann, den Sinn des Textes explizi-ter zu fassen. Der Autor des Originals kann sich in gewissen Fällen Ambivalenzen und Polisemien gestatten, die dem Übersetzer nicht gegeben sind. Denn schon beim Lesen des Originals und beim Versuch, sich das Gelesene als Text der Zielsprache und Zielkultur vorzustellen, findet ein Prozess der rationalen Auslegung statt. Bei der Niederschrift manifestiert sich diese rationale Verarbeitung dann explizit.
Auch wenn der Übersetzer einen bestimmten Passus nicht versteht – beispielsweise eine Anspielung oder einen Querverweis, den der Autor des Prototextes anklingen lässt – wird diese Verständnislücke fast immer deutlich und rational motiviert. Die impliziten Eigen-schaften des Prototextes werden im Metatext zu expliziten Eigenschaften. Was nicht ex-plizit vermittelt wird – sei es aufgrund einer rationalen Entscheidung des Übersetzers, sei es aufgrund der Grenzen seiner Texterschließung – ist Teil jenes Sinnverlusts, der als un-gelöstes Residuum der Übersetzung stehen bleibt. Letztendlich beschränkt sich der Akt des Übersetzens nicht auf die Wiedergabe des Originaltexts, es wird auch dessen Struktur bloßgelegt.
Broeck sieht die Übersetzung gerade aufgrund der Seite der rationalen Verarbeitung als eine Form der Interpretation an, die neben das kritische Essay oder die Rezension gestellt werden kann. Folglich gibt es keine neutrale Übersetzung. Wenn also jede Übersetzung ein rationaler Interpretationsprozess ist, dann sollte auch der Leser explizit in diesen kritischen Ansatz des Übersetzers eingeweiht werden. Diese Rationalisierung, die dem Übersetzungsprozess eigen ist, hat zweifellos eine wichtige Rolle und wichtige Konsequenzen.